Mohnblume
(Foto: Gabi Faulhaber)

Brandbrief der hessischen EUTB-Berater:innen

In Hessen zeichnet sich ab, dass es zu einem großen Umbruch in der Trägerlandschaft bei den ergänzenden unabhängigen Teilhabeberatungen kommt. Ca. 50% der EUTBs werden den Träger wechseln. 9 von 27 EUTB Beratungsstellen sollen an die Deutsche Multiple-Sklerose Gesellschaft gehen, die bislang weder über hauptamtliche Peer-Berater noch über die entsprechenden Büros verfügt. Damit fallen 33,3% aller unabhängigen Teilhabeberatungen auf einen Träger, der laut Satzung ein Selbsthilfeverein ist, der nur auf eine spezifische Autoimmunerkrankung/Behinderung ausgerichtet ist. Mit Offenbach (IGEL-OF e.V.) (die sich aber auch nicht mehr beworben haben) und Gießen ("Ich bin dabei e.V.") fallen darüber hinaus zwei Beratungsstellen weg, die eindeutig unabhängig arbeiten und Trägervereine haben und keine Leistungserbringer sind. Auch im Rheingau-Taunus-Kreis (jj.j. e.V.) und Frankfurt (Frankfurter Heimstätten /Frankfurter Verein) arbeiten kleinere Träger, die durchaus angesehen sind und nicht per se große Leistungserbringer.

Im Oktober 2022 wandten sich die hessischen Berater:innen der ergänzenden unabhängigen Teilhabeberatungsstellen (EUTB) an die Bundes- und Landesregierung:

Brandbrief (= dringende Bitte)
des hessischen EUTB-Berater*innen Netzwerkes und
der Trägervereine der EUTB-Angebote Hessen

Das EUTB®-Netzwerk Hessen und seine teilnehmenden Berater*innen haben mit Erschrecken und Fassungslosigkeit die Bescheidungspraxis der gsub (Gesellschaft für soziale Unternehmensberatung) bezüglich der kommenden Förderperiode ab Januar 2023 für die Ergänzende unabhängige Teilhabeberatung (EUTB®) zur Kenntnis genommen.

Zum besseren Verständnis der Tragweite wird im Folgenden kurz Bezug zur sozialpolitischen Gesamtsituation hergestellt und in einem zweiten Schritt die konkreten Kritikpunkte und Forderungen seitens der hessischen EUTB®-Angebote dargelegt.

 

Die umfassende gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit Behinderungen gilt spätestens seit der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen aus dem Jahr 2006 (ratifiziert von der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 2009) als ein grundlegendes Menschenrecht. Im Zuge der Umsetzung der daraus resultierenden Ansprüche hat Deutschland das Bundesteilhabegesetz (BTHG) auf den Weg gebracht, das seit 2018 schrittweise in Kraft tritt und die umfassende gesellschaftliche Teilhabe der Menschen mit Beeinträchtigungen gewährleisten soll. Ein zentraler Bestandteil dieses BTHGs war die bundesweite Einführung der Ergänzenden unabhängigen Teilhabeberatungen (nach §32 SGB IX), bei denen der Peer-Ansatz (Betroffene beraten Betroffene) in der Beratungstätigkeit im Mittelpunkt steht.

Auf diese Weise konnten in den vergangenen 5 Jahren nicht nur zahlreiche Menschen mit Behinderungen in ein sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis eintreten, sondern auch die gesellschaftliche Teilhabe von Betroffenen und die Sensibilisierung der Gesellschaft hat messbare Fortschritte gemacht, Minderheiten und Barrierefreiheit mitzudenken.
Dies lässt sich u.a. auf die hohe Beratungsqualität der EUTB®-Beratungsangebote und ihre kooperativen Netzwerktätigkeiten zurückführen.

Die nun kürzlich seitens der gsub (im Auftrag des BMAS) ergangenen Bescheide für die nächste, siebenjährige Förderperiode der EUTB®-Beratungsstellen hat sowohl die Betroffenen als auch die Beratenden zu tiefst schockiert:
Trotz größter Beratungserfolge darf ungefähr die Hälfte der 32 hessischen EUTB®-Angebote ihre Arbeit ab Anfang kommenden Jahres nicht fortsetzen, da die Stellen nach dem Willen der gsub in neue Trägerschaften übergehen.

Aus diesem Grund haben sich die Unterzeichnenden entschieden, den vorliegenden Brandbrief zu veröffentlichen.

Einige Punkte sind nachfolgend aufgelistet:

Ergänzend
 Vernichtung von aufgebauten Vernetzungsstrukturen (Arbeitskreise).
 Erhebliche Versorgungslücken in der Fläche sind zu erwarten, Betroffene
schweben voraussichtlich monatelang in der Luft ohne klare Beratungsstrukturen.
 Verlust der (auch fachlichen) Vielfalt in der hessischen Beratungslandschaft.
 Kooperationen in der Region wurden über Jahre aufgebaut und drohen nun zu zerfallen.
 Konkurrenzgedanken unter den Beratungsstellen und den EUTB-Angeboten konnten über Jahre abgebaut werden und könnten nun wieder aufkeimen.
 Die Vielfalt der repräsentierten Behinderungsarten und regionale Verankerung durch die Träger geht verloren.

Unabhängig
 Drohender Aufbau einer Beinahe-Monopolstruktur durch die zahlreiche Übernahme durch einen einzigen Träger. Dadurch werden demokratische Abstimmungsprozesse innerhalb des hessenweiten Netzwerkes nahezu unmöglich (in einem Fall gehen 1/3 aller Stellen an einen Träger).
 Das Vertrauensverhältnis zu Ratsuchenden, die schon über einen längeren Zeitraum beraten werden, geht verloren.
 Vorurteile gegenüber EUTB-Stellen von großen und kleinen Trägern konnte abgebaut werden und könnten nun wieder aufkommen.
 Der Impuls in die Trägerschaft: Öffnung für Menschen – egal mit welcher (drohenden) Behinderung/Einschränkung - wird nachlassen.
 Mehrheitlich kommen Ratsuchende auf Empfehlung („Mund-zu-Mund-Propaganda“) – dies geht mit neuer Trägerschaft komplett verloren.

Teilhabe
 „(Steuer-)Gelder werden verbrannt“ (Verlust von investierten Ressourcen in die Qualifizierung der Mitarbeitenden).
 Aufkündigung von zahlreichen Arbeitsverhältnissen von Menschen mit Behinderungen => Existenzängste bei ohnehin benachteiligten Menschen.
 Kahlschlag ist in keinster Weise im Interesse der Betroffenen.

Wir trauern:

... um unseren Fraktionsvoritzenden
Wolfgang Schrank

250 Wolfgang Schrank 

Der überraschende Tod unseres Fraktionsvorsitzenden Wolfgang Schrank macht uns sehr traurig. Seine Kompetenz, sein Optimismus und sein Einsatz für soziale Gerechtigkeit motivierte uns in unserer Arbeit im Landeswohlfahrtsverband. Wolfgang Schrank wird uns sehr fehlen!

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